Früher war das Frühjahr die Zeit der Geburten — doch seit etwa 40 Jahren kommen die meisten Kinder im Sommer auf die Welt. Was steckt dahinter? Die Hypothesen reichen von der Pille bis zum Klimawandel.
Gute Ernte, neues Kind
Die Über-50-Jährigen merken es alle Frühjahre wieder, wenn sich im Kreis der Gleichaltrigen Geburtstagfeier an Geburtstagsfeier reiht: Bis in die 70er-Jahre erblickten Kinder vor allem in den Monaten Februar, März und April das Licht der Welt. Als Erklärung dafür muss die Landwirtschaft herhalten. Denn war im Sommer die Ernte gut, konnte sich die Familie ein weiteres Kind leisten — und das kam dann neun Monate später im Frühjahr zur Welt.
Gute Sitten: Frühjahrsbaby
Auch die guten Sitten bevorzugen Frühjahrsbabys: Sex vor der Ehe war ein Tabu, und geheiratet wurde im Sommer. Erst danach gings mit Volldampf in die Kinderproduktion. Doch seit einigen Jahrzehnten wackelt das frühjährliche Geburten-Hoch und der Sommer verzeichnet die meisten Neuankömmlinge. 2019 war beispielsweise Juli der geburtenstärkste Monat, dicht gefolgt vom August und vom September.
Demografen rätseln, was hinter diesem Wandel steckt. Womöglich sind die die wilden 60er-Jahre, ihre Enttabuisierung von Sex und die Entkopplung von Sex und Ehe eine Erklärung. Zudem sind seitdem Geburten durch die Pille planbarer. Doch ganz so einfach ist die Sache nicht, erklärt Joshua Wilde vom Max-Planck-Institut für demografische Entwicklung. Denn die meisten Eltern wünschen sich die Geburt ihres Nachwuchses in Frühjahr oder Frühsommer. Die Pillen-Theorie würde also eher zu einer Vermehrung der Frühjahrsbabys führen.
Weihnachtszeit, Familienzeit …
Weihnachten scheint beim Geburtengipfels ebenfalls mitzumischen: 9 Monate nach den Festtagen werden seit 40 Jahren durchschnittlich die meisten Kinder geboren. Allerdings nicht von muslimischen oder christlichen Frauen, wie ein israelischer Wissenschaftler herausfand. Bei ihnen zeigt sich kein postweihnachtliches Geburtenhoch im September. Anzumerken ist, dass es auch schon früher ein kleines septemberliches Zwischenhoch gab — und das Fest von Christi Geburt offenbar schon immer zu Zweisamkeit anregte. Gegen die Weihnachtstheorie als verstärkender Faktor spricht außerdem, dass auch viele Länder auf der Südhalbkugel den Wechsel von Frühjahrs- auf Sommerbabys vollzogen haben.
Hitzewelle stört die Zeugung
Demografieforscher Joshua Wilde führt stattdessen den Klimawandel als Erklärung ins Feld. Die immer stärker werdende Sommerhitze erschwert Schwangerschaften, die im Sommer entstehen, es drohen vermehrt Fehlgeburten. Das könnte erklären, warum Sex im Sommer weniger Folgen hat und im Frühjahr weniger Kinder das Licht der Welt erblicken.
Immerhin passt diese Erklärung dazu, dass das Phänomen der boomenden Sommerbabys auch in vielen europäischen Ländern und in den USA zu beobachten ist. Hitzewellen und immer wärmeres Wetter gebe es weltweit, betont Wilde. Doch auch für diese Hitze-Hypothese gibt es Gegenargumente: West- und Ostdeutschland gleichen sich im Klima, haben aber die Entwicklung von Frühjahrs- zu Sommerbabyboom zeitversetzt durchgemacht: Der Westen in den 80er-Jahren, der Osten erst seit den 90ern.
Quelle: Ärztezeitung